Erna legte die Schultasche weg und trat hinter die Mutter. Tat so, als wenn sie ihr bei der Arbeit zusehen möchte. Am liebsten aber wäre sie der Mutter um den Hals gefallen vor Freude darüber, dass sie ein Geburtstagsgeschenk für sie hatte.
Später fand Erna ein Plätzchen, wo sie die Schokolade versteckte. Fast bis zum Abend hielt ihre Freude darüber an, dass sie für Mutters Geburtstag etwas hatte. Dann aber – als die Mutter wegging um die fertiggenähten Sachen abzuliefern – überfiel sie plötzlich ein grosses Verlangen, die Schokolade doch noch selber zu essen. Sie holte das Täfelchen aus seinem Versteck. „Mutter weiss ja noch nichts davon!“ dachte sie. Da gab es auch schon einen Knacks. Grad an der Ecke ging das Täfelchen entzwei, weil Erna daran gebrochen hatte. Doch die Umhüllung hielt noch stand. Gewiss war sie durch ein Stückchen Pappe haltbarer gemacht. Zum Glück, muss man schon sagen, denn Erna konnte das Täfelchen danach wieder an seinen Platz zurücklegen. „Es ist Mutters Geburtstagsgeschenk“ hatte sie die Stimme gemahnt. „Beherrsche dich!“
Fast traurig stand Erna am Fenster, als ihre Mutter zurückkam. Plötzlich war dann der Widerstreit, der in ihr herrschte, beigelegt. „Mutter sorgt, tagein, tagaus für mich, und –ich-?“ hatte sie beim Näherkommen der Mutter denken müssen. Und zum ersten Mal fiel ihr auf, dass ihre Mutter schon ein wenig vorgebeugt ging, als habe sie eine Last zu tragen, eine unsichtbare, schwere Last. –
Gross war Ernas Freude zwei Tage später. Da war Mutters Geburtstag! Leise stand sie auf, noch bevor die Mutter wach geworden war, nahm ihre Kleider und huschte in die Küche. Hier zog sie sich flink an; dann holte sie die Blumen herbei, die sie am Abend vorher auf dem Wiesenplan gepflückt, in eine Vase gestellt und hinter dem Spülschränkchen versteckt hatte; sie stellte sie auf den Tisch, holte das Täfelchen Schokolade aus dem Versteck und legte es dazu. Und dann ging sie die Mutter mit einem lieben Kuss wecken. Erna war glücklich, als sie die Freude in Mutters Gesicht sah.
Damit könnte meine Geschichte zu Ende sein. Sie ist es aber noch nicht. Denn stellt euch vor: vierzehn Tage später machte Erna mit der Schule einen Tagesausflug zum Herzberg, einer alten Burgfeste im Knüllgebirge, und da fand sie zu ihrer Überraschung bei der ersten Rast beim Öffnen des Rucksacks das Täfelchen Schokolade, das sie der Mutter auf den Geburtstagstisch gelegt hatte! Die Mutter hatte schon Kenntnis davon gehabt, dass es in Kürze einen Schulausflug geben sollte. Wie oft hatte Erna fröhlich davon erzählt. Da konnte es die Mutter nicht über sich bringen, das Täfelchen anzubrechen. Wie Erna es vorher getan hatte, so versteckte sie es nun – bis es dann in den Rucksack wanderte.
Wie ein Kleinod nahm Erna das Täfelchen Schokolade hervor. Und nach einigem Besinnen teilte sie die eine Hälfte mit ihrer Freundin; die andere aber verwahrte sie sorgsam und brachte sie der Mutter mit nach Hause. Und darüber hatte sich die Mutter am meisten gefreut.
Ungekürzte Kurzgeschichte von Oskar Bergien aus dem Buch Kinderherz und Kindersinn vom Verlag SV
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